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Objektgruppe Metall und Knochen/Bein

Getrübte patrizische Weltsicht in Lüneburg?

Brillen, Brillengläser und ein Brillenetui

FO: Am Ochsenmarkt 1
Messingblech
L. 10,7 cm; B. ca. 5,2 cm,
16. Jahrhundert

Brillenetui aus Messingblech
Lüneburg, Am Ochsenmarkt 1, Kloake 1: Brillenetui, links: Vorderseite, rechts: Rückseite.

Das Stammhaus der Familie von Witzendorff, die zu den bedeutendsten Familien der Stadt zählte, steht unmittelbar neben dem Lüneburger Rathaus und dem Markt. Es zeichnet sich durch seine Größe, Architektur und Raumausstattung aus. Der Ratsherr und Sodmeister Hans von Witzendorff erhielt 1484 das Haus als Mitgift seiner Frau Ilsabe Lange. Heinrich Witzendorff, ihr jüngerer Sohn, erbte das Anwesen 1525.

Urbanus Regius weilte zweimal als Gast des Sülfmeisters Heinrich Witzendorff in Lüneburg, um die Reformation durchzuführen. Nach dem Tod Heinrichs erbte sein älterer Bruder und Bürgermeister Hieronymus das Haus. Dessen Sohn Hartwig errichtete auf der Parzelle, deren Bebauung in die Zeit um 1300 zurückgeht, das heutige Haus, das den Namen Heinrich-Heine-Haus trägt, da Heinrich Heines Eltern von 1822 bis 1826 hier lebten und der Dichter sie mehrmals besuchte. Dendrochronologische Untersuchungen belegen einen Baubeginn 1561/62. Der Chronist Lucas Lossius schwärmt 1566: „…tua, Harduice, ampla domus noua splendet ad arctum, Vuitzendorff, primos ostentans fronte parentes (… dein neues, geräumiges Haus erglänzet im Norden, Hartwig Witzendorff, an der Front die Voreltern wesend)”. Hartwig wird die Vollendung seines Hauses vielleicht nicht mehr erlebt haben, er verstarb 1565.

Im Zuge der Sanierung des Hauses in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde nicht allein die Baugeschichte erforscht, sondern auch die überaus reiche Raumausstattung erfasst. Bei Sicherungsmaßnahmen der Rückwand des Flügelbaus wurde 1988 unter dem Fußboden des Raumes eine Kloake entdeckt. Da aus statischen Gründen eine Verfüllung dieses Backsteinschachtes beabsichtigt war, erfolgte eine Ausgrabung durch Mitarbeiter des Museums für das Fürstentum Lüneburg. Eine weitere Kloake lag unmittelbar hinter der Rückwand des Flügelbaus; auch diese wurde ausgegraben.

Kloake 1 hatte eine Tiefe von ca. 3,90 m und einen Durchmesser von ca. 2,10 m. Der Backsteinschacht war oben durch ein Gewölbe, das eine runde, 1,40 m messende Öffnung besaß, geschlossen. In der Westwand befand sich ca. 0,90 m über der Unterkante der Backsteinmauer ein 0,65 x 0,50 m großes „Fenster”, das von außen mit Eichenbrettern verschlossen war. Eine weitere, allerdings nicht verschlossene Öffnung befand sich auf der Nordseite etwa 1,40 m über der Unterkante. Die Funktion dieser Öffnungen konnte nicht gedeutet werden. Kloake 2 konnte nicht gänzlich untersucht werden. Das Fundmaterial ist bis heute nicht bearbeitet.

Brillenetui, Verschluss
Verschluss

Aus Kloake 1 wurde ein Objekt geborgen, dessen Funktion zunächst nicht zu erschließen war. Das Fundobjekt ist ein Etui aus Messingblech von langovaler Form (Abb. 1). Seine max. Höhe beträgt 107 mm, die max. Breite 52 mm. Ein 9 mm breiter Seitenstreifen umfasst zwei Messingbleche und ist mit ihnen weich verlötet. Das hier als Rückseite bezeichnete Blech ist knapp 1 mm stark, das mittig an den Steg gelötete „Trennblech” 0,5 mm (Abb. 2). Zwischen dem unteren und dem trennenden Blech befindet sich ein Fach von 5,4 mm Höhe. An der Oberkante des schmalen Seitenstreifens sind ebenfalls Lötspuren zu bemerken, so dass davon ausgegangen werden kann, dass auch eine Vorderseite vorhanden war. Somit ergibt sich ein zweites Fach von 4 mm Höhe. Die Innenmaße der beiden Fächer betragen rund 105 x 50 mm. Der Seitenstreifen umfasst nicht das gesamte langovale Objekt, sondern spart eine Rundung des oblongen Etuis aus. Ein bügelförmiger Verschluss ist an einem Ende des Seitenstreifens an einem Scharnier befestigt. Zwei ösenförmige Gelenke wurden auf den Seitenstreifen gelötet, ein weiteres auf den Bügel. Ein Verbindungsstift hält die Gelenke zusammen. Das Bügelgelenk ist durch vier Kehlen gegliedert. Auf das andere Ende des Seitenstreifens wurde ein mehrteiliges Gelenk mit Bolzen gelötet. Der Verschlussbügel endet hier mit einem aufgelöteten Klemmverschluss, der durch drei Kehlen gegliedert ist (Abb. 3). Der Bügel ist 11 mm breit und schließt mit der Rückseite bündig ab.

Unmittelbar neben den aufgelöteten Gelenken des Seitenstreifens wurden zwei zu Röhren gebogene Ösen mit einem Durchmesser von ca. 3,5 mm aufgelötet, die auf einer Seite schräg abgearbeitet wurden. Beide 11 mm langen Ösen weisen Kehlen als Verzierung auf. Die Ösen legen nahe, dass das Messingetui an einem Band oder einer Schnur befestigt war. Die schräge Seite der Ösen und natürlich die außermittige Anbringung der Haltevorrichtung geben an, dass der Bügelverschluss die obere Seite des Objektes darstellt.

Brillenetui nach Henry Harvard
Brillenetui, Ende 16. Jahrhundert
(Henry Harvard, um 1890, Abb. 430)

Der Direktor des Museums für das Fürstentum Lüneburg, Dr. Eckhard Michael, startete kurz nach der Bergung eine Anfrage an mehrere Museen. Dr. Stefan Bursche, Kunstgewerbemuseum SMPK Berlin, gab den entscheidenden Hinweis. Er verwies auf Abb. 430 des von Henry Harvard um 1890 in Paris herausgegebenen „Dictionnaire de l'ameublement et de la décoration” (Abb. 4). Das dort abgebildete Objekt s.v. étui wird als „étui à lunettes (fin du XVIe siècle)” bezeichnet. Eine nähere Beschreibung des Objektes liefert der Artikel nicht.

Die Sehhilfe, die wir als eigentliche Brille ansehen, wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Norditalien erfunden. „Vitreos ab oculis ad legendum” werden in den Erlassen des Hohen Rates von Venedig genannt. Ein Brillenetui wird erstmals 1316 erwähnt. Der Bischof von Bologna investiert „in oculis de vitro cum capsula”. In der Malerei finden sich zahlreiche Darstellungen von Brillen und Brillenetuis. Die Fresken von 1352 im Kapitelsaal des Dominikanerklosters S. Nicolò in Trevisio / Venetien zeigen ein Einglas und eine Nietbrille. Nur wenig später erscheinen Abbildungen von Brillenetuis. Brille und Brillenetui besitzt Joris van der Paele, Kanoniker an der Brügger Kirche Sint-Donaas (Abb. 5). Jan van Eyck stellt ihn auf seinem 1436 vollendeten Tafelbild dar. Der vor einer Madonna kniende Kanoniker hält in seiner rechten Hand eine Bügelbrille. An seinem Gürtel hängt ein Brillenetui, das vermutlich aus Leder gefertigt ist. Lederfutterale für Brillen sind zahlreicher bekannt.

Brille und Brillenetui bei Jan van Eyck
Jan van Eyck, Madonna des Jovis van der Paele (Detail), 1436.
Brügge, Stedelijke Musea, Groeningemuseum

Die ehemals angelötete Abdeckplatte des in Lüneburg gefundenen Brillenetuis aus Messing ist verloren. Betrachtet man das bei Henry Harvard abgebildete Brillenetui, dessen Material dem Artikel nicht zu entnehmen ist, so kann vermutet werden, dass das Etui aus der Kloake des Witzendorffschen Hausesehemals ebenfalls eine reich verzierte Frontplatte besaß, die vielleicht wegen ihres besonderen Werts entfernt wurde. Spuren einer gewaltsamen Demontage sind allerdings nicht auszumachen.

Welche Brille bzw. Brillen nahm das Etui auf? Setzt man voraus, dass das Lüneburger Fundstück ebenso wie das von Henry Harvard vorgestellte in das 16. Jahrhundert datiert, wird es sich um eine Bügelbrille, eine Lederbrille oder eine Drahtbrille gehandelt haben. Neben einer Brille für Alterssichtige konnte das Etui auch eine seit dem frühen 16. Jahrhundert bekannte Brille für Kurzsichtige aufnehmen.

Brillenglas und Brillenfassungen
Lüneburg, Michaeliskloster: Brillenglas und Brillenfassungen

Foto des Brillenfundes aus dem Michaeliskloster

Buchkasten mit bemalten Brillengläsern
Lüneburg, Buchkasten aus dem Rathaus

In Lüneburg sind Brillenfunde bisher selten. Bei der Ausgrabung des Michaelisklosters konnten in einer Zisterne Reste von zwei Brillenfassungen aus Bein und ein Brillenglas geborgen werden (Abb. 6). Das Brillenglas war durch die Lagerung im Boden stark zersetzt und porös, trotzdem konnte festgestellt werden, dass es aus zwei Schichten besteht. Dieser Fundkomplex datiert in das 15. Jahrhundert. Brillengläser waren hingegen in Lüneburg schon früher bekannt, allerdings nicht als Sehhilfe. Ein Buchkasten, der seit dem 19. Jahrhundert im Lüneburger Rathaus nachweisbar ist, zeigt auf seinem Deckel Christus als Weltenrichter, begleitet von den vier Evangelistensymbolen als Hinterglasmalerei auf Brillengläsern (Abb. 7). Der ursprüngliche Standort des Kastens, der um 1330 datiert wird, ist umstritten. Horst Appuhn sieht in ihm einen Buchkasten für das älteste Lüneburger Stadtbuch von 1331, während Gerhard Körner annimmt, dass sich der Kasten aus Eichenholz ursprünglich als Lade oder Reliquienkasten in der herzoglichen Burg auf dem Kalkberg befand.

Tafelmalerei von 1462
Klappbrille, Tafelmalerei (Detail), Herlin Friedrich, Süddeutschland, 1462

Das Brillenetui aus der Kloake eines Patrizierhauses am Lüneburger Markt, ursprünglich sicherlich mit einer reich verzierten Frontplatte versehen, wird für seinen Besitzer von besonderer Bedeutung gewesen sein, schützte es doch ein Instrument, das für das alltägliche Leben nicht nur eines Patriziers von höchster Bedeutung sein konnte. Bildung, erworben durch das Studium von Büchern, zeichnete insbesondere im 16. Jahrhundert die Lüneburger Patrizier aus. Ein Augengenuss waren die prachtvollen Decken- und Wandmalereien der Häuser, die ihrerseits ein Spiegel der Bildung und ein Beleg angenehmer Ablenkung sind. Früh einsetzende Kurzsichtigkeit oder Schwäche der Augen im Alter trübten den Blick und stellten somit ein Handikap dar. Eine Brille versprach Abhilfe.

Autor: Edgar Ring; in: Denkmalpflege in Lüneburg 2004, 19-24. Download PDF  (770 KB)

Literatur