zur Startseite

Objektgruppe Knochen und Bein

Eine Sonnen- und Monduhr

FO: Bei der St. Johanniskirche 19
Elfenbein (?)
L: 46,5 mm, B: 36,5 mm, H: 4 mm
Nürnberg (?), 16./17. Jahrhundert

Die Ausgrabung zweier Kloaken auf dem Grundstück „Bei der St. Johanniskirche” brachte eine Vielzahl von interessanten Funden wieder an das Licht der Öffentlichkeit. Besondere Aufmerksamkeit findet ein kleiner flachovaler Gegenstand aus Elfenbein. Es handelt sich dabei um das Fragment einer klappbaren Sonnen- und Monduhr. Es besteht aus einer Elfenbeinscheibe, in die verschiedene Markierungen graviert bzw. gepunzt sind. Durch die Bodenlagerung sind die Oberflächen teilweise sehr stark beschädigt. Von der Oberfläche der Außenseite ist weniger als die Hälfte erhalten, die Innenseite ist besser erkennbar, hier ist noch mehr als zwei Drittel der Oberfläche vorhanden.

Sonnen- und Monduhr
Monduhr (Außenseite); rechts: Sonnenuhr (Innenseite)

Auf der Außenseite sind fünf konzentrische Kreislinien eingraviert, zwischen der zweiten und dritten Linie sind die arabischen Zahlen 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 und 12 eingepunzt. Der Bereich zwischen dem vierten und fünften Ring trägt die noch erkennbaren Zahlen 1 2 3 4 5 6. In der Mitte der Kreise ist eine 2 mm starke Bohrung zu erkennen. Am Rand sind zwei Grübchen zu erkennen, die ursprünglich die Metallgelenke aufnahmen.

Zeichnerische Umsetzung
Zeichnerische Umsetzung (D. Beeker)

Die Innenseite trägt die für Klappsonnenuhren typische Einteilung: Im oberen Bereich verläuft eine waagerechte Linie mit einem angehängten Halbkreis. Im rechten Winkel zur Linie verläuft mittig eine Gerade zum unteren Ende. Insgesamt elf Linien streben im Abstand von 15° radial auf diesen Schnittpunkt, der durchbohrt ist, zu. Am rechten Schnittpunkt von Gerade und Halbkreis befindet sich ein weiteres Loch. Eines oder beide Löcher dienten zur Aufnahme des Polfadens, der als Schattenzeiger gebraucht wurde. In diesem Halbkreis kann man zwei winzige Sonnensymbole erkennen. Vier konzentrische Kreise sind als eine weitere Verzierung zu erkennen. Zwischen und teilweise auf den Linien sind von links nach rechts die arabischen Zahlen 8 9 10 11 12 1 2 3 4 5 zu erkennen. Nicht erhalten ist die 7, die aber sicher ursprünglich auch vorhanden war. Zwischen den Zahlen sind einzelne kleine Punkte eingeschlagen. Die Uhr zeigte also die Zeit zwischen 7 und 17.00 Uhr an.

Am unteren Ende bilden zwei parallele Linien den Abschluss. Darunter befinden sich drei Bohrungen, zwei für die Scharnierösen und eine für einen Buntmetallstift, dessen Reste noch in dem Loch stecken. Links, oberhalb der 8, am äußersten Rand ist ein Buntmetallrest vorhanden, der vermutlich einen Teil des Verschlusses bildete.

Die Lüneburger Sonnenuhr ist gut mit zwei Funden aus Göttingen und Münster zu vergleichen. Das Münsteraner Stück ist sehr ähnlich, einzig die Verzierungen auf der Innenseite fehlen. Die Beschriftung erfolgte in lateinischen Zahlen, auf der Außenseite ist dieses Stück allerdings nicht weiter graviert. Dagegen hat die Göttinger Sonnenuhr ebenfalls eine arabische Beschriftung und auch die gleichen Verzierungen in Form von konzentrischen Kreisen und Sonnensymbolen.

Um die Sonnenuhr benutzen zu können, ist es wichtig, die Nordrichtung und die geographische Breite des jeweiligen Ortes zu kennen. Bei der Göttinger Sonnenuhr ist ein Kompass vorhanden, um die Nordrichtung einzustellen. Ein Kompass war sicher auch bei unserem Exemplar und bei dem aus Münster vorhanden. Wie die beiden direkten Parallelen ist auch unsere Sonnenuhr nur für eine geographische Breite ausgelegt, da der Polfaden nicht angepasst werden kann. Allerdings hat sie als einzige zwei Bohrungen, man konnte sie vermutlich an zwei Orten benutzen. Lüneburg liegt nördlich des 53. Breitengrades, die rechte Bohrung könnte für diese Breite geeicht sein. Das Exemplar aus Göttingen (ca. 51°) besitzt ebenfalls eine Bohrung rechts der Mitte, die aber zwischen der Mitte und dem Loch der Lüneburger Uhr liegt.

Um die Zeit abzulesen, musste die Kompassnadel auf den zentralen Stift am unteren Ende der Uhr eingestellt werden, der Schatten des Polfadens gab dann die genaue Ortszeit an. Da das Ziffernblatt hierbei senkrecht steht, bezeichnet man eine solche Uhr als Vertikalsonnenuhr.

Die Außenseite ist als Monduhr ausgelegt, mit ihr konnte man in mondhellen Nächten die Uhrzeit bestimmen. Dazu sind drei Skalen notwendig, zuerst im äußersten Ring die Skala von 1 bis 29 und im mittleren Ring zweimal die Zahlen von 1 bis 12. Auf einer drehbaren Messingscheibe mit Zeiger befand sich die dritte Skala, wiederum zweimal mit den Zahlen von 1 bis 12. Zuerst bestimmte man mit Hilfe des Mondlichts den Wert auf der Sonnenuhr. Anschließend wurde die bewegliche Skala auf die Tage, die seit dem letzten Neumond vergangen waren, eingestellt. Nun konnte der gemessene Wert von der Inneren auf die mittlere Skala übertragen werden. Somit war die Uhrzeit auch bei Nacht abzulesen.

Sonnenuhren sind seit der Antike bekannt, im Mittelalter wurden hauptsächlich große Sonnenuhren an Südseiten von Gebäuden angebracht. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sind Reisesonnenuhren, ähnlich wie die in Lüneburg gefundene, in Gebrauch. Diese ersten transportablen Sonnenuhren wurden jedoch auch Messing angefertigt. Erst seit dem Ende der 15. Jahrhunderts kommen auch Holz und Bein als Material in Gebrauch. Die Blütezeit der Taschensonnenuhren lag jedoch in den beiden nachfolgenden Jahrhunderten, als das Bedürfnis nach individueller Zeitmessung wuchs, die mechanischen Räderuhren aber noch absolute Luxusgegenstände waren. Mit dem 18. Jahrhundert wurden die einfachen Sonnenuhren mehr und mehr von eben diesen Räderuhren verdrängt. Endgültig aus dem Gebrauch fielen die Sonnenuhren erst im 19. Jahrhundert. Dementsprechend schwierig ist die Datierung. Das Göttinger Exemplar ist ein Altfund, bei dem die Fundumstände unbekannt sind, die Uhr aus Münster stammt aus frühneuzeitlichen Schichten, die sich nicht genauer datieren lassen. Unser Stück wurde in einer Backsteinkloake gefunden, in der sich überwiegend Gegenstände des 17. Jahrhunderts befanden. Entsprechend kann die Uhr datiert werden.

In Museen liegen ebenfalls nur sehr wenige ovale Klappuhren vor. Aus der Sammlung der Staatlichen Museen Kassel ist eine sehr ähnliche Uhr bekannt. Auch sie weist auf der Deckelaußenseite eine Monduhr auf. Diese Uhr wird dem Nürnberger Kompassmacher Paulus Reinmann (1557–1609) zugeschrieben. Nürnberg war im 16. und 17. Jahrhundert der Hauptproduktionsort von Uhren, möglicherweise stammt das Lüneburger Stück ebenfalls aus einer Nürnberger Werkstatt.

Mit dem Fund dieser Sonnen- und Monduhr haben wir ein seltenes Beispiel, das den technischen Fortschritt und die Individualisierung der Gesellschaft auch archäologisch nachweisen lässt. Der ehemalige Besitzer hatte im 17. Jahrhundert das Bedürfnis, seine Zeit selbst zu messen, um nicht mehr auf die Kirchenglocken und -uhren angewiesen zu sein. Hierfür bot sich die beinerne Taschenuhr an, ihr Gebrauch war nach einer Eichung denkbar einfach, als einzige Einschränkung musste der Besitzer hinnehmen, dass er seine Zeit nur bei sonnigem Wetter messen konnte.

Autor: Marc Kühlborn; in: Denkmalpflege in Lüneburg 2002, 88-91.

Literatur

Siehe auch:  Funktionsweise der Taschenuhr