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Objektgruppe Glas

Scherzgefäße

Mit dieser Gruppe innerhalb der gehobenen Tischkultur fassen wir Gefäße, deren reiner Zweck die Auflockerung der Tischrunde war. Sie erschwerten das Ausgießen oder Austrinken von Flüssigkeiten und bescherten bei „unsachgemäßer Handhabung” Flecken auf Kleidung und Tischwäsche sowie das Gelächter der Tischgesellschaft.

Beim Kuttrolf mit verdrehtem Hals wird der Inhalt nur bei sehr vorsichtigem Ausgießen ohne Spritzer hinausgelangen. Rüsselgläser wurden niemals leer: beim Trinken läuft die Flüssigkeit in die hohlen Rüssel und beim Absetzen des Gefäßes zurück ins Glas. Das „Goglò” verursacht beim Ausgießen eine Melodie, je nachdem, durch welche der verschieden großen Kugeln die Flüssigkeit gerade fließt.

Der aufwändig mit eingelegten verschiedenfarbigen Glasfäden und Vergoldung verzierte Stiefel zeigt, dass man auch (und wahrscheinlich: gerade) in der High Society für eine Belebung der Tischrunden sehr offen war. Vielleicht ist aus manchen Gläsern (insbesondere das figurenförmige Scherzgefäß und der Stiefel) auch gar nicht getrunken worden, sondern man stellte diese lustigen Gläser lediglich als Schaustücke aus.

Hals eines Kuttrolfes

FO: Lüneburg, Am Sande 11-12 (Kloake)
blaugrünes Glas, blaue Fadenauflagen, stellenweise verwittert, geklebt und ergänzt,
H 15,3 cm; Ø Lippe 5,1 cm; Gd. 1,3 mm
Deutschland, 1. H. 16. Jh.

Kuttrolf
Obere Partie der Schulter und Hals eines einröhrigen Kuttrolfes mit je einem blauen Hals- und Randfaden.

Kuttrolfe sind Flaschen mit einer oder mehreren Röhren, die gerade oder verdreht sein können. Solche Flaschen gehören zu den sogenannten Scherzgläsern, die während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Deutschland vermehrt aufkamen. Durch die Windung im Hals kam es beim unvorsichtigen Ausgießen zum Verschütten der Flüssigkeit, was von der lustigen Tafelrunde gelegentlich mit Trinkstrafen geahndet wurde. Intakte Gefäße mit gewundenem Hals sind bislang nicht bekannt. Um 1521 datierte Holzschnitte von Leonhard Beck und Hans Weidlitz und ein Gemälde des Niederländers J. Ratgeb aus der Zeit um 1510 zeigen zwar nicht die verdrehte Ausführung des Kuttrolfhalses, geben aber wieder, wie man aus solchen Gefäßen trank. Zugleich geben die Datierungen einen Hinweis auf die Zeitstellung der Gläser. An recht exakten Parallelen zum Lüneburger Exemplar liegen bisher nur die Fragmente aus Worms, Friedrichsrode, Kr. Sondershausen in Thüringen und Rosenholm, Dänemark, vor.

Scherzgefäß

FO: Lüneburg, Grapengießerstraße 7-8 (Einzelfund)
hellblaugrünes Glas mit plastischen, gekerbten und gekniffenen Fadenauflagen, verwittert, geklebt,
H 17,3 cm; Ø Lippe 5,1 cm, Ø Wandung max. 7,3 cm
Deutschland, 1. H. 16. Jh.

Scherzgefäß
Aufgesetztes, als Lebewesen ausgeformtes Oberteil ähnlich eines schaftförmigen Stangenglases, von dem nur noch die obere Partie mit gekerbten Fadenauflagen erhalten ist. Durch plastische Auflagen und durch Herauskneifen und Einkerben stilisierte Augen, Nase und Mund; zu „Armen” geformte hohle Rüssel, die vom kugeligen Oberkörper mit gekniffener Fadenauflage bis auf die Mündungspartie des Stangenglases gezogen wurden.

Scherzgläser gehören zu den ausgefallensten Glasgefäßen und sind zumeist Unikate ohne exakt vergleichbare Parallelen. So lässt sich für das Lüneburger Stück, dessen Unterteil fehlt, die Gesamtform nicht völlig erschließen. Möglich ist, dass ähnlich einem Scherzglas mit Rüsseln aus Göttingen das Unterteil sehr kurz war und wie vergleichbare Keulen- oder Stangengläser des 15. Jahrhunderts entweder auf einem Scheibenfuß oder einem hochgestochenem Fuß mit hohlem Rand gesessen hat. Glasgefäße mit hohlen Rüsseln sind seit etwa 1500 bekannt und aus vielen Fundkomplexen der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts geläufig. Im ostniedersächsischen und thüringischen Raum ist die Produktion von Rüsseln und Tierkopfnuppen für diesen Zeitraum belegt.

Gloglò
Röhrenförmiges Glasgefäß mit mindestens 5 (davon 4 noch erhalten) aneinandergesetzten Hohlkugeln, deren Durchmesser nach oben abnimmt. Röhrenförmige, nicht verdickte Lippe.

Scherzglas („Gloglò”)

FO: Lüneburg, Am Sande 11-12 (Kloake)
hellgrünblaues Glas,
H max. 16,7 cm; Ø Lippe 1,4 cm; Gd. 0,7 mm
Deutschland oder Niederlande, 17. Jh.

Glasgefäße mit übereinandergesetzten Hohlkugeln sind aus Venedig seit etwa 1570 bekannt. Bei diesen „verres à boutons” handelt es sich um Kelchgläser, deren Stiel aus mehreren Hohlkugeln besteht. Zeichnungen solcher Gläser finden sich u.a. in der 1604 erschienenen „Bichierografia” des Giovanni Maggi, doch ist nicht immer klar ersichtlich, ob Kuppa und Stiel miteinander verbunden oder getrennt sind. Dagegen zeigt ein von Maggi abgebildeter Kuttrolf deutlich, dass hier Form und Funktion von den Hohlkugeln bestimmt werden. Die schmale röhrenförmige Lippe des Lüneburger Stückes gibt vor, dass aus dem Gefäß nicht getrunken, sondern ausgeschenkt wurde. Der Ausschank aus diesem Scherzgefäß erforderte besondere Vorsicht: da der Wein unregelmäßig nachfloss, ging - zur Freude der Tafelrunde - leicht etwas daneben! Die Anordnung von Hohlkugeln verschiedener Durchmesser hatte aber noch einen anderen Grund, von dem wir aus der Beschreibung eines solchen Glasgefäßes erfahren, das sich im Besitz des italienischen Dramatikers Carlo Goldoni befunden hat und das dem Exemplar aus der Kloake Am Sande sehr ähnlich ist. Dieses als Gloglò („gluckgluck”) bezeichnete Glas wurde in der von Hamburger Glasbläsern im Jahre 1722 gegründeten Glashütte Tribussa bei Gorizia im Friaul, angefertigt. Der Name weist bereits auf den Glucker-Effekt des Gefäßes hin, dessen Klang durch die unterschiedlichen Kugeldurchmesser bestimmt wurde. Goldoni berichtet von der Präsentation jenes Glases im Rahmen eines Festmahls im Palast von Lantieri di Vipacco am 4. November 1726. Er beschreibt das Gloglò als eine „Maschine aus Glas in der Größe eines Fußes, zusammengesetzt aus verschiedenen, sich nach oben verjüngenden Kugeln, die untereinander verbunden sind und in einer verlängerten Öffnung enden”. Das Besondere war nun, „dass der Wein, der an den Kugeln und an der Öffnung vorbeikam, einen wohlklingenden Ton von sich gab und die Vielfalt der Töne ein neues und anmutiges Konzert erzeugten”. Scherzgläser dieser Art waren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert sehr beliebt und ebenso im bürgerlichen Milieu Bestandteil ausgelassener Tischrunden.

Stiefel aus Fadenglas, Fragment

FO: Lüneburg, Grapengießerstraße 7-8 (Einzelfund)
farbloses Glas, Reste von Blattvergoldung,
H max. 3,8 cm; L max. 9,6 cm; Gd. 1,7 mm
Niederlande (?), 2. H. 16. Jh.

Stiefel aus Fadenglas
Einfacher, unregelmäßig umgelegter kräftiger Standring. Leicht verformter Boden, am „Absatz” leicht hochgestochen und abgesprengt. Stiefelspitze und Schaft aus Fadenglas („vetro a fili”): 5 blaue Fäden, dazwischen je 7-8 weiße Fäden, die sternförmig am Abriss zusammenlaufen. In „Fersenhöhe” und über dem „Knöchel” noch 2 erhaltene gestempelte Beerennuppen aus farblosem Glas mit Resten von Blattvergoldung.

Gläserne Stiefel, wie sie gelegentlich noch heute in Gasthäusern zu finden sind, waren bereits im 16. Jahrhundert über Venedig hinaus verbreitet. Sie gehören in den Bereich der Scherzgefäße, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts sehr beliebt wurden und als Freundschaftsbecher oder „Willkomm” sowie zur Erheiterung der Tafelrunden gedacht waren. Stiefel verkörpern eine Spielart der bereits in prähistorischer Zeit nachweisbaren, mit magischen und apotropäischen Vorstellungen verbundene Sitte, Schuhe als Trinkgefäße zu verwenden. Die Anordnung der applizierten Beerennuppen gibt einen Hinweis auf die damalige Stiefelmode. In seinem 1563 in Venedig erschienenen Werk „Cursor Italicae” bildet Ferdinando Bertelli einen Mann in zeitgenössischer Tracht ab, dessen Stiefelschaft mit einem Knopf über der Ferse und vier übereinanderliegenden Knöpfen über dem Knöchel besetzt ist. Ähnlich wird auch das Lüneburger Stiefelfragment zu rekonstruieren sein, für das exakte Parallelen aus Amsterdam, dem Berliner Kunstgewerbemuseum und aus den Kunstsammlungen der Veste Coburg vorliegen (hier mit fünf Knöpfen über dem Knöchel).

Autor: Peter Steppuhn; in: Glaskultur in Niedersachsen, 2003, 151-153 u. 156 f. (gekürzt)