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St. Lamberti - Ausgrabung einer untergegangenen Kirche

Der verschlossene Mann

Ein Schraubtaler aus einer Gruft der St. Lambertikirche

Im Jahre 1635 begab sich ein vornehm gekleideter Mann zu einer Frau, um ihr ein Geschenk zu überreichen. 364 Jahre später begegnet uns dieser Mann bei der Ausgrabung der St. Lambertikirche wieder.

SilberkreuzIm Sommer 1998 wurde während der ersten Grabungskampagne auf dem Lambertiplatz eine Seitenkapelle auf der Nordseite der Kirche freigelegt. Diese Kapelle lag unmittelbar neben der sogenannten Brautpforte. Unter dem Fußboden der Kapelle befand sich eine Gruft, deren Umfassungsmauern ausgegraben wurden. Vom Schutt des Kirchenabrisses von 1860/61 bedeckt ruhten zwei Barockbestattungen, deren Särge mit aufwändigen Beschlägen verziert waren. Nach der vorsichtigen Bergung dieser Bestattungen kam eine ältere Bestattung zum Vorschein, von der nur noch ein Schädel, mit großer Wahrscheinlichkeit der einer Frau, und zwei kleine Objekte die Zeit überdauert hatten. Neben dem Schädel, dessen anthropologische Bestimmung noch nicht erfolgte, lagen ein Taler und ein kleines Kreuz. Das silbernes Kreuz I.N.R.I.
Silberkreuz, H. 43 mm, B. 32 mm.
 von vier mal drei Zentimeter Größe trägt die Initialen I·N·R·I. Es lag direkt auf dem Taler, der einen Durchmesser von 41 mm und eine Stärke von 3,5 mm aufweist. Er zeigt auf der Vorderseite des Schraubtalers  drei Personen und benennt sie in einer Umschrift: CHRISTIAN·JOHAN GEORG·ET·AVGVSTUS. Gemeint sind die drei Kurfürsten und Brüder Christian II. von Sachsen, Johann Georg I. von Sachsen und August von Sachsen. Der Taler trägt die Datierung 1598, die letzte Ziffer ist nicht eindeutig zu lesen. Vorbild für die Darstellung der drei Kurfürsten ist ein Holzschnitt, der vermutlich 1597 entstand.

Auf der Rückseite des Schraubtalers  des Talers befindet sich ein großes sächsisches Wappen, die Umschrift RAT·ET·DVCES·SAXON (Brüder und Fürsten Sachsens) und die Marke eines Dresdener Münzmeisters.

Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass sich Vorder- und Rückseite leicht zusammen drücken lassen und dass sich auf dem Rand eine umlaufende Rille abzeichnet. Damit war eindeutig klar, dass hier nicht ein Taler, also ein Zahlungsmittel, sondern ein Schraubtaler gefunden worden war. Diese wurden aus kuranten Talern, also umlaufenden Münzen, gefertigt, indem man einen Taler auf einer Seite abschliff, ausfräste, mit einem Gewinde versah und ein zweites Exemplar mit einem Gegengewinde ausstattete. In den Hohlraum malte man kleine Porträts, legte man Zettel oder Souvenirs wie etwa eine Locke.

Augsburg war im 17. und 18. Jahrhundert das Herstellungszentrum von Schraubtalern. In der Zeit von 1635 bis 1670 war es Mode, Brustbilder hauptsächlich von jungen Frauen und Männern mit ausgesprochen individuellen Zügen auf die Innenflächen zu malen.

Der Schraubtaler aus der Gruft der Lambertikirche ließ sich zunächst nicht aufdrehen. Daher wurde versucht, auf andere Weise Informationen über seinen Inhalt und seinen Aufbau zu erhalten. Das Klinikum der Stadt Lüneburg wurde angesprochen. Frau Dr. Annette Dierks, Oberärztin der Röntgen-Abteilung, fertigte ein Röntgenbild. Ein Hohlraum war aber nicht zu erkennen. Erst eine Computer-Tomographie zeigte den Hohlraum und das Gewinde. Über den Inhalt des Schraubtalers lieferten die Untersuchungen keine Hinweise.

Die Restaurierungswerkstatt des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege in Hannover bot ihre Hilfe an. Ein Einlegen des Schraubtalers in ein korrosionslösendes Bad war nicht möglich, weil nicht garantiert werden konnte, dass Flüssigkeit in das Innere dringt. Die Restauratorin Andrea Tröller-Reimer entfernte deshalb mit einer Präparationsnadel vorsichtig Korrosionsprodukte, die den Rand überwucherten. Schließlich gelang es, den Schraubtaler aufzudrehen.

Nach Monaten der Spannung auf den Inhalt des Schraubtalers war es Frau Tröller-Reimer, die nach über 300 Jahren als erste dem eingangs erwähnten Mann in die Augen sah. Auf der linke Innenfläche des Schraubtalers  (der Vorderseite) befindet sich das Porträt eines bärtigen, vornehm gekleideten Mannes. Er trägt das Wams, das eng anliegend gearbeitet war. Es war das charakteristische Merkmal der spanischen Hoftracht, die für viele Jahrzehnte das modische Vorbild lieferte. Der Stoff zeigt noch das feierliche Schwarz der spanischen Hoftracht, ist aber durch florale Motive, vermutlich in blassen Tönen wie grün oder gelb, gebrochen. So scheint sich unterhalb des Wulstes am Oberarm ein Granatapfelmuster abzuzeichnen. Dieser Wulst wurde reich verziert, die Verbindung zwischen Ärmel und Wams ist hier mit runden Knöpfen verziert. Unter den Wülsten verbargen sich meist sogenannte Nesteln, ähnlich heutigen Schnürsenkeln, denn die Ärmel waren nicht immer fest angenäht.

Über dem Wams liegt nicht mehr die für die spanische Mode charakteristische Halskrause, sondern die flach über den Schultern liegende Fallkrause. Diese Fallkrause scheint nur aus weißem Leinen gearbeitet zu sein, eine für die Zeit typische Spitzeneinfassung fehlt.

Diese Fallkrause ließ, im Gegensatz zu der hohen Halskrause, die um 1630 unmodern wurde, wieder längere Haare, die frei auf die Schulter fielen, zu. Das Haar ist modisch in die Stirn gekämmt, die Seitenhaare fallen gewellt herab. Außerdem trägt er einen Spitz- und Schnurbart.

Der Mann hält einen Gegenstand in der Hand, dessen Bedeutung noch nicht geklärt werden konnte.

Die rechte Innenfläche des Schraubtalers  (der Rückseite) verrät, dass der Schraubtaler eine Liebesgabe war. Zwei Tauben halten in ihren Schnäbeln einen Ring. Sie sitzen auf Zweigen. Unter den Zweigen ist ein brennendes Herz dargestellt. Schließlich gibt eine Datierung an, wann diese zierlichen Bilder gemalt wurden: 1635.

Vermutlich handelt es sich bei den Innenbildern um Temperamalerei, da ölige Bindemittel unter Lichtabschluss stark zu Vergilbungen neigen. Von einer Probenanalyse wurde Abstand genommen, weil sie mit einem Substanzverlust verbunden gewesen wäre.

Unter Anleitung von Dr. Detlev Gadesmann erfolgte beim Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege auch die Restaurierung der gut erhaltenen Innenbilder. Die Malerei wurde gefestigt, die wenigen Fehlstellen retuschiert. Schließlich wurde ein dünner Firnis aufgebracht, der die Farben wieder besser zur Geltung bringt.

Ebenfalls in Hannover wurde eine Spektralanalyse durchgeführt, sie erbrachte für das Metall des Talers eine Silber-Kupfer-Verbindung mit sehr geringen Anteilen von Zinn und Blei.

Nach der so lange offenen Frage, was sich in dem Schraubtaler verbirgt und der spannenden, behutsamen und von mehreren naturwissenschaftlichen Untersuchungen begleiteten Öffnung und restauratorischen Behandlung stellte sich sofort die Frage: wer ist der Mann, dessen so minutiös gemaltes Porträt vorgefunden wurde.

Der Fundort befand sich in einer Kapelle des nördlichen Seitenschiffes der Lambertikirche. Aufgrund der überlieferten 83 Vikarienstiftungen an 23 Altären sind wir darüber informiert, wer für den Unterhalt dieser Seitenkapellen zuständig war. Alle Stiftungen des südlichen Seitenschiffes sind zu lokalisieren. Ganz anders stellt sich die Situation im nördlichen Seitenschiff dar. Nur wenige Vikarien sind dort zu bestimmen, für keine ist derzeit eine exakte Festlegung auf eine bestimmte Seitenkapelle möglich. Daher wissen wir nicht, welche Familie mit der Pflicht des Unterhalts auch das Recht erwarb, in einer Gruft unter dieser Seitenkapelle Familienmitglieder zu bestatten. Ein Lageplan der Grüfte der St. Lambertikirche ist nicht bekannt.

Die Vermutung liegt nahe, dass der Porträtierte der Frau, die in der Gruft bestattet wurde, den Schraubtaler schenkte, vielleicht zur Verlobung oder zur Hochzeit. Daher wurden alle Lüneburger Hochzeiten des Jahres 1635 erfasst. In den Hochzeitsbüchern, die im Lüneburger Kirchenbuchamt verwahrt werden, sind für die Kirchen St. Johannis, St. Lamberti, St. Michaelis und St. Nikolai über 100 Eheschließungen vermerkt, davon 21 in St. Lamberti. Vorausgesetzt, das Paar heiratete in Lüneburg, so wäre als nächster Schritt ein Abgleich der Namen mit den nach 1635 in der St. Lambertikirche erfolgten Bestattungen vorzunehmen.

Doch für diese Zeit sind die Bestattungen in der Kirche noch nicht registriert worden. Bei einigen Bestattungen in und bei St. Lamberti wurden die Glocken der Johanniskirche geläutet, dafür musste eine Gebühr entrichtet werden. Diese Zahlungen sind im Läuteregister vermerkt. Wie unterschiedlich aber dieser Brauch überliefert wurde, zeigt das Beispiel der Brüder Johann Ludolff und Leonart Conrad von Döring, deren gemeinsamer Grabstein 1991 auf dem Schulhof der Heiligengeistschule gefunden wurde.

Johann Ludolff starb am 10. August 1684 im Alter von zwei Jahren, Leonart Conrad am 25. Oktober 1684 im Alter von sechs Jahren. In den Kirchenrechnungen St. Johannis für das Jahr 1684 sind unter der Rubrik „Einnahmen Läutegeldes zu St. Johannis” folgende Einträge vermerkt: „Heinrich Dörings Sohn vor der Sülzen in St. Lamberti Kirch begraben” und „Heinrich Dörings Sohn”. Nur bei Johann Ludolff ist vermerkt, dass er in der Lambertikirche bestattet wurde.

So gelang es bisher auch nicht, einen Namen der 1635 überlieferten Brautpaare im Läuteregister St. Johannis wieder zu finden.

Der vornehm gekleidete Mann, der sich für die Schraubmedaille, die kleine Liebesgabe, porträtieren ließ, wird wohl anonym bleiben. Ebenso bleibt der Künstler unbekannt, der die fein ausgeführten Miniaturen in dem Schraubtaler fertigte. Dieser Schraubtaler ist bisher der Erste, der bei Ausgrabungen gefunden wurde.

Man kann schon von einer kleinen Sensation sprechen, wenn ein über dreihundert Jahre altes Porträt wieder entdeckt wird, nachdem kein Mensch es über diesen langen Zeitraum betrachten konnte. Wie interessant wäre es, mehr über den Porträtierten und die von ihm Beschenkte zu erfahren.

Text: Edgar Ring, in: Denkmalpflege in Lüneburg 2, 2000, 37-41.

Literatur

Förschner, Gisela, Kleinkunst in Silber. Schraubtaler und Schraub-Medaillen, Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt a.M. 10, Frankfurt 1978.
Thier, Bernd, Ein Augsburger Schraubtaler mit Doppelporträt. Der Herzog und die Herzogin von Longueville, Numismatisches Nachrichtenblatt 47, 1998, 269-271.

Siehe hierzu auch: Der verschlossene Mann